Massenentlassungsanzeige: Berücksichtigung von Mitarbeitern in Elternzeit

Es verstößt gegen den Gleichheitssatz, wenn Arbeitnehmern, die Sonderkündigungsschutz während der Elternzeit genießen, aufgrund des vor einer Kündigung durchzuführenden behördlichen Zustimmungsverfahrens kein Schutz vor Massenentlassungen gem. § 17 KSchG gewährt wird (BVerfG, Beschluss vom 08.06.2016 – 1 BvR 3634/13).

Der Fall:

Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang Juni dieses Jahres eine bemerkenswerte Entscheidung zu § 17 KSchG, der Vorschrift zur Anzeige von Massenentlassungen bei der Bundesagentur für Arbeit, verkündet:

Die Beschwerdeführerin, eine ehemalige Arbeitnehmerin einer Fluggesellschaft, die Anfang 2010 sämtliche Tätigkeiten in Deutschland eingestellt hatte, wehrte sich über drei Instanzen (Arbeitsgericht Frankfurt/Main – Landesarbeitsgericht Hessen – Bundesarbeitsgericht) erfolglos gegen die ihr gegenüber ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung. Der Arbeitgeber hatte zwar eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG erstattet: Jedoch hatte diese die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Beschwerdeführerin nicht erfasst. Sie befand sich zu dem Zeitpunkt, als den übrigen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte, in Elternzeit, so dass der Arbeitgeber zunächst die Zustimmung bei der zuständigen Behörde einholte. Als diese vorlag, erklärte er – mehrere Monate nach den übrigen Kündigungen – auch die Beendigung des mit der Klägerin bestehenden Arbeitsverhältnisses.

Das Bundesarbeitsgericht sah den Anwendungsbereich des § 17 Abs. 1 KSchG als nicht eröffnet an: Dieser setze voraus, dass der Arbeitgeber eine bestimmte Quote von Arbeitnehmern „innerhalb von 30 Kalendertagen“ entlässt, § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Beschwerdeführerin war weit mehr als 30 Kalendertage nach den übrigen Kündigungen erklärt worden und sei daher nicht mehr Teil der Massenentlassung. Gegen diese Auslegung von § 17 Abs. 1 KSchG richtete sich ihre beim Bundesverfassungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde: Die Beschwerdeführerin sei in ungerechtfertigter Weise schlechter als ihre Kollegen behandelt worden, da ihre Kündigung allein aufgrund der notwendigen Zustimmung der Behörde zeitlich später als die übrigen Kündigungen erklärt worden war. Die Beschwerdeführerin fühlte sich dadurch in ihren Grundrechten, insbesondere in Art. 3 und Art. 6 GG, verletzt.

Die Entscheidung:

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt und bestätigte die Auffassung der Arbeitnehmerin, die sich ungleich behandelt fühlte. Faktisch führe die Elternzeit nach der durch das Bundesarbeitsgericht vorgenommenen Auslegung von § 17 Abs. 1 KSchG dazu, dass die betroffenen Arbeitnehmer schlechter vor Massenentlassungen geschützt würden als die übrigen Kollegen ohne Sonderkündigungsschutz. Zwar müsse der Arbeitgeber vor der Kündigung die Zustimmung der zuständigen Behörde einholen – im Fall einer Betriebsstilllegung wird diese jedoch regelmäßig erteilt. Da die Kündigung jedoch erst dann ausgesprochen werden kann, wenn die Zustimmung formal vorliegt, zählt die Kündigung des Mitarbeiters in Elternzeit (Ähnliches dürfte auch für Schwerbehinderte und Arbeitnehmer in Pflegezeit gelten) nach der bisherigen Auffassung des Bundesarbeitsgerichts genauso regelmäßig nicht mehr zu den innerhalb des „30-Tage-Fensters“ ausgesprochenen Kündigungen, die a) der Bundesagentur für Arbeit gemeldet werden müssen und b) unwirksam sein können, wenn die Massenentlassungsanzeige oder das mit dem Betriebsrat durchzuführende Konsultationsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Das vorzuschaltende behördliche Verfahren führt also für Mitarbeiter mit Sonderkündigungsschutz, insbesondere während der Elternzeit, dazu, dass ihre Kündigung nicht dem Schutz des § 17 KSchG unterfällt.

Die Benachteiligung der hiervon betroffenen Arbeitnehmer – so das Bundesverfassungsgericht – sei aus keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt.

Fazit:

Im Ergebnis gibt das Bundesverfassungsgericht dem Bundesarbeitsgericht – das sich mit dem Fall erneut wird befassen müssen – ganz konkrete Handlungsanweisungen an die Hand: § 17 Abs. 1 KSchG muss so ausgelegt werden, dass nicht nur der Ausspruch von Kündigungen innerhalb der 30 Tage „zählt“, sondern auch die Stellung des Antrags bei der zuständigen Behörde auf Zustimmung zur Kündigung von Mitarbeitern in Elternzeit. Für die Beschwerdeführerin dürfte der jahrelange Rechtsstreit bis zum höchsten deutschen Gericht dann doch noch ein gutes Ende nehmen: Ihre ehemaligen Kollegen waren mit ihren Klagen gegen die ihnen gegenüber ausgesprochenen Kündigungen erfolgreich gewesen, da der Arbeitgeber das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG nicht durchgeführt hatte (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2012 – 6 AZR 752/11). Von diesem Fehler wird nun wohl auch die Beschwerdeführerin profitieren.

Präventiv muss bei Massenentlassungen ganz genau hingesehen werden: Die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgericht zeigen, dass es zu fatalen Folgen kommen kann, wenn nur die innerhalb des 30-Tage-Zeitraums tatsächlich ausgesprochenen Kündigungen für die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige und das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat berücksichtigt werden. Sind von der Kündigung auch Mitarbeiter mit Sonderkündigungsschutz betroffen, deren Arbeitsverhältnis erst nach Zustimmung der zuständigen Behörde gekündigt werden kann, reicht der Antrag bei der Behörde bereits aus, damit sie von § 17 KSchG erfasst werden.

Quellen:

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 08.06.2016 – 1 BvR 3634/13 – Entscheidungsgründe

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.04.2013 – 6 AZR 49/12 – Entscheidungsgründe