BAG vollzieht Rechtsprechungsänderung zum Massenentlassungsschutz

Das Bundesarbeitsgericht vollzieht die vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichnete Rechtsprechungsänderung zum Massenentlassungsschutz für Mitarbeiter in Elternzeit (BAG, Urteil vom 26.01.2017 – 6 AZR 442/16).

Der Fall

Die Arbeitnehmerin einer Fluggesellschaft, die Anfang 2010 sämtliche Tätigkeiten in Deutschland eingestellt hatte, hatte sich – zunächst erfolglos – über drei Instanzen (Arbeitsgericht Frankfurt/Main – Landesarbeitsgericht Hessen – Bundesarbeitsgericht) gegen die ihr gegenüber ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung gewehrt.

Kern des Streits war die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG. Diese Vorschrift sieht ein formalisiertes Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats und der Information an die Bundesagentur für Arbeit vor, wenn eine bestimmte Quote an Entlassungen innerhalb von 30 Tagen ausgesprochen werden soll.

Der Arbeitgeber der Klägerin hatte die Massenentlassungsanzeige zwar erstattet – diese war jedoch mangels Konsultation des Betriebsrats nicht ordnungsgemäß erfolgt und erfasste im Übrigen auch nicht die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin. Die Klägerin befand sich zu dem Zeitpunkt, als den übrigen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte, in Elternzeit, so dass der Arbeitgeber zunächst die Zustimmung bei der zuständigen Behörde einholte. Als diese vorlag, erklärte er – mehrere Monate nach den übrigen Kündigungen – auch die Beendigung des mit der Klägerin bestehenden Arbeitsverhältnisses. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zählen nur die innerhalb der 30-Tage Frist tatsächlich vorgenommenen Kündigungen zum Quorum für eine Massenentlassungsanzeige. Die später erfolgte Kündigung der Klägerin musste deshalb nach der alten Rechtsprechung nicht von der Massenentlassungsanzeige erfasst werden.

Das Dilemma der Klägerin: Die betriebsbedingten Kündigungen ihrer Kollegen waren aufgrund des nicht ordnungsgemäß erfolgten Konsultationsverfahrens unwirksam. Auf ihre eigene Kündigung hatte dies jedoch keine Auswirkungen, da diese nicht innerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 Abs. 1 KSchG ausgesprochen wurde. Gegen die ursprüngliche, ihre Klage abweisende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts legte die Klägerin Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein und dieses entschied im Juni 2016, dass die Entscheidung die Klägerin in ihren Grundrechten verletzt (wir berichteten: „Massenentlassungsanzeige: Berücksichtigung von Mitarbeitern in Elternzeit“).

Die Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht hatte das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, das sich nun – unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Bedenken – erneut mit dem Fall zu befassen hatte. Wenig überraschend wurde die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin nun für unwirksam erklärt, da es an der notwendigen Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG gefehlt habe. Nicht nur Kündigungen, die innerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 Abs. 1 KSchG ausgesprochen werden, müssen von der Massenentlassungsanzeige erfasst sein, sondern auch Anträge auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde. Der Begriff der „Entlassung“ erfährt damit eine deutlich erweiterte Auslegung.

Fazit

Die beschriebene Rechtsprechungsänderung ist im Hinblick auf den eigentlich sehr eindeutigen Wortlaut des § 17 KSchG und auch der EU-Massenentlassungsrichtlinie durchaus kritisch zu sehen. Bereits in dem Antrag auf Zustimmung zur Kündigung eines Mitarbeiters in Elternzeit (dasselbe dürfte für die Verfahren zur Kündigung von Schwangeren und Schwerbehinderten gelten) eine „Entlassung“ zu sehen, geht sehr weit und führt zu unnötigen Ungenauigkeiten. Offen ist beispielsweise, ob die Kündigung, die nach der Zustimmung der Behörde ausgesprochen wird, dann noch einmal „zählt“, z.B. für eine zweite Entlassungswelle. Auch ist nicht geklärt, was gilt, wenn die Zustimmung der Behörde nicht innerhalb der 90 Tage, dem Zeitfenster, in dem nach einer Massenentlassungsanzeige die Kündigungen auch tatsächlich ausgesprochen werden müssen (§ 18 Abs. 4 KSchG), vorliegt.

Die Praxis muss sich trotz der Bedenken auf die geänderte Rechtslage einstellen, was bedeutet, dass immer dann, wenn eine Vielzahl an Kündigungen vorbereitet wird, die Voraussetzungen für eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG nicht nur anhand der im 30-Tage Zeitraum tatsächlich auszusprechenden Kündigungen geprüft werden müssen, sondern auch die Einleitung des behördlichen Zustimmungsverfahrens als „Entlassung“ behandelt werden muss. Sollte die später, nach Durchführung des behördlichen Verfahrens, dann auszusprechende Kündigung wiederum mit weiteren Entlassungen zusammenfallen, sollte sie vorsorglich nochmals als „Entlassung“ behandelt werden. Das Zusammenfallen mit weiteren Entlassungen sollte ebenfalls sorgfältig geprüft werden, wenn die Zustimmung erst nach Ablauf von 90 Tagen nach der Massenentlassungsanzeige vorliegt.

Quelle:

Pressemitteilung Nr. 4/17 des Bundesarbeitsgerichts, 6 AZR 442/16