Zehnprozentige Abbestellung von ÖPNV-Leistungen führt nicht zu einer vergaberechtspflichtigen wesentlichen Auftragsänderung einer bestehenden Direktvergabe

VK Saarland, Beschluss v. 18.07.2017, Az. 3 VK 03/2017

Als einer der maßgeblichen Gründe für die Entscheidung zugunsten von Direktvergaben im ÖPNV an das eigene kommunale Verkehrsunternehmen gemäß Art. 5 II VO 1370/2007, wird oft die Flexibilität für die Ab- und Zu-Bestellung von Leistungen während der Vertragslaufzeit genannt.

Das kann sich als gefährlicher Irrtum erweisen, wenn der öffentliche Dienstleistungsauftrag die gewünschte Flexibilität nicht von Anfang vorsieht.

Erstmals hat sich jetzt die VK Saarland im Beschluss vom 18.07.2017 mit der Frage beschäftigt, inwiefern eine quantitative Verringerung von ca. 10 % des ursprünglich beauftragten ÖPNV-Leistungsumfangs im Rahmen der VO 1370/2007 als wesentliche Auftragsänderung zu werten ist, die eine erneute Vorabbekanntmachung des Auftrags im EU-Amtsblatt erfordert. Nach den Erwägungsgründen der VK Saarland waren die Reduzierungen jedoch kein neuer von der ursprünglichen Beauftragung separierbarer Auftrag, was daran lag, dass Änderungen in der Betrauung bereits ausdrücklich vorbehalten waren.

Problemstellung

Die Besonderheit bei Direktvergaben an das eigene kommunale Unternehmen liegt in Art. 7 Abs. 2 VO 1370/2007: Während im allgemeinen Vergaberecht für „in-house“-Konstellationen gar keine Transparenz- und Veröffentlichungspflichten gelten, verlangt die VO 1370/2007 gemäß ihrem 29. Erwägungsgrund eine obligatorische Vorabbekanntmachungspflicht für jede „Erteilung“ von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen, unabhängig des zulässigen Erteilungsverfahrens, um zu gewährleisten, „dass potenzielle Wettbewerber darauf reagieren können“. Die Vorabbekanntmachungspflicht greift deshalb nicht nur in wettbewerblichen Verfahren, wenn der öffentliche Dienstleistungsauftrag regulär ausläuft und neu erteilt werden muss, sondern auch jedes Mal, wenn ein wettbewerblich oder direkt vergebener Auftrag innerhalb seiner Laufzeit so wesentlich geändert wird, dass er – vergaberechtlich gesehen – einer Neuerteilung des Auftrags gleichkommt, auf die „potenzielle Bewerber“ reagieren können müssen.

Da die VO 1370 selbst nur wenige Aussagen zur Erteilung von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen trifft, die keine Vorabbekanntmachungspflicht auslösen – nämlich bei Bagatellvergaben im Umfang von bis zu 50.000 km pro Jahr – gelten insoweit die Grundsätze, die der EuGH in seine „Pressetext“-Entscheidung (Urt. C-454/06 v. 19.06.2008) für wesentliche Auftragsänderungen während der Auftragslaufzeit herausgearbeitet hat.

Danach ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags während seiner Laufzeit als Neuvergabe anzusehen, wenn sie „wesentlich andere Merkmale aufweist als der ursprüngliche Auftrag und damit den Willen der Parteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen des Vertrages erkennen lassen“, oder „Bedingungen einführt, die die Zulassung anderer als der ursprünglich zugelassenen Bieter oder die Annahme eines anderen als des ursprünglich angenommenen Angebots erlaubt hätten, wenn sie Gegenstand des ursprünglichen Vergabeverfahrens gewesen wären“ oder, „wenn sie das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrags in einer im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehenen Weise zugunsten des Auftragnehmers ändert.“ Es ist also immer aus dem Blickwinkel des Anbietermarktes zu fragen, ob durch die Änderung nicht auch jemand anderes den Zuschlag hätte erhalten können.

Diese Grundsätze sind nunmehr erstmals im neuen § 132 GWB zusammengefasst worden. § 132 GWB gilt allerdings – mit Ausnahmen echter Beschaffungsvorgänge, die gemäß Art. 5 Abs. 1 VO 1370 in den Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien fallen – gemäß der Verweisung in § 8a Abs. 7 PBefG ausschließlich in Kapitel 2 des 4. Teils des GWB nicht unmittelbar für Verfahren nach der VO 1370/2007; die Norm könne daher nur entsprechend und mit Blick auf die Besonderheiten des ÖPNV angewendet werden.

Eine Besonderheit des deutschen Personenbeförderungsrechts stellt der Vorrang der so genannten „Eigenwirtschaftlichkeit“ vor aufgabenträgerinitiierten Verfahren dar. Danach kann selbst bei einer ausdrücklichen Entscheidung einer Kommune für eine Direktvergabe an das eigene kommunale Unternehmen nie sichergestellt werden, ob die für die Durchführung der Personenbeförderungsleistung letztendlich maßgeblichen Liniengenehmigungen nicht an einen Dritten erteilt werden müssen. Insofern stellt sich bei jeder wesentlichen Auftragsänderung tatsächlich die Frage, ob diese nicht auch von kommerziell tätigen Betreibern durchgeführt werden könnten und diese bei der Genehmigungserteilung bevorrechtigt sind.

Verschärft wird die Situation durch den erheblichen zeitlichen Vorlauf, den der Gesetzgeber für eine Vorabbekanntmachung anordnet. Sie darf nicht früher als 27 Monate vor dem beabsichtigten Betriebsbeginn liegen (§ 8a Abs. 2 Satz 2 PBefG) und muss nach Art. 7 Abs. 2 VO 1370/2007 spätestens 12 Monate vor Erteilung eines Direktauftrags an das eigene Verkehrsunternehmen im EU-Amtsblatt veröffentlicht sein. Da der Betreiber jedoch nach § 12 Abs. 7 PBefG spätesten sechs Monate vor (Wieder-)Aufnahme des Betriebs mit dem kommunalen Auftrag in der Tasche seinen Genehmigungsantrag bei der Genehmigungsbehörde stellen muss, muss die Vorabbekanntmachung mindestens 18 Monate vor dem Auslaufen der Altgenehmigungen im EU-Amtsblatt veröffentlicht werden.

Die Voraussetzungen an den zeitlichen Ablauf stellen somit regelmäßig eine erhebliche Herausforderung für die Planung von Auftragsänderungen dar. Es ist daher zu fragen, ob sich das Erfordernis, eine EU-weite Vorabbekanntmachung bei wesentlichen Auftragsänderungen durchführen zu müssen, auf anderem Wege lösen lässt.

Lösungsmöglichkeiten

Solche Lösungsmöglichkeiten wurden jetzt durch den Beschluss der VK Saarland bestätigt: Es handelt sich nämlich z.B. schon nicht um eine wesentliche Änderung im Sinne der Pressetext-Entscheidung, wenn in den ursprünglichen Vergabeunterlagen klare, genaue und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind, die Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Auftragsänderungen enthalten, und sich aufgrund der Änderungen des Gesamtcharakters des Auftrags nicht ändert.

Das heißt, der kommunale Auftrag einschließlich seiner Vorabbekanntmachung muss den zulässigen Umfang von qualitativen und quantitativen Änderungen im Idealfall bereits von Anfang an möglichst transparent beschreiben; dann bedarf es auch keiner Vorabbekanntmachung von Auftragsänderungen.

Weitere, über die Entscheidung der VK Saarland hinausgehende, Ausnahmemöglichkeiten von der Vorabbekanntmachungspflicht können in engen Grenzen anhand von § 132 GWB begründet werden. Insbesondere ist an die dort genannten „nicht vorhersehbaren“ Umstände zu denken, oder, wenn für Dritte objektiv aufgrund der in § 13 Abs. 2 genannten Versagungsgründe keine Möglichkeit besteht, die für die Personenbeförderung erforderliche Liniengenehmigung zu erhalten.

Fazit – Das PBefG vollzieht einen Wandel vom Verkehrsgewerbe- zum Vergaberecht

Verkehrsunternehmen, Aufgabenträger oder Genehmigungsbehörden müssen sich von der alten personenbeförderungsrechtlichen Genehmigungswelt verabschieden. Insbesondere auf die kommunale Verkehrswirtschaft kommen erhebliche rechtliche Veränderungen, aber auch Chancen zu. Die Erfahrung der vergangen Jahre zeigt, dass die Vergabegerichte, die jetzt für die Überprüfung öffentlicher Aufträge im ÖPNV-Bereich zuständig sind, konsequent ihre wettbewerbs- und vergaberechtlichen Vorstellungen durchsetzen und auf das verwaltungsrechtlich geprägte Personenbeförderungsrecht alter Lesart wenig Rücksicht nehmen.

Gleichzeitig beinhaltet die das Verfahren initiierende Vorabbekanntmachung aber auch neue Chancen für die kommunale Verkehrswirtschaft. Der Aufgabenträger steuert über die Vorabbekanntmachung Qualität und Quantität der Verkehrsleistungen und kann darüber eigenwirtschaftliche Konkurrenzanträge von Anfang an erfolgreich abwehren.

Entscheidend bleibt somit, nicht erst bei bevorstehenden Änderungen, sondern direkt bei der Gestaltung öffentlicher Dienstleistungsaufträge sich über die Möglichkeiten für absehbare Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit Gedanken zu machen und diesen dann konsequent umzusetzen.